Roadmap einer Göttinger Straßendirne (Dokumentation 52 Min., 2015)
Über die Reichen und Mächtigen in der Geschichte ist schon viel geschrieben worden doch wie steht es mit den vielen Anderen, den „kleinen Leuten“? Haben sie nichts Aufregendes zu erzählen? Wie viel wissen wir heute wirklich über das Leben der damaligen „einfachen Frauen“? Welches Schicksal drohte Ihnen, wenn sie gar zu „gefallenen Mädchen “sogenannten Kontrolldirnen“ wurden? Diesen Fragen gehe ich in der Film-Dokumentation Roadmap einer Göttinger Straßendirne anhand der spannenden Lebensgeschichte meiner eigenen Urgroßmutter nach.
Einen Film zum ehrenden Gedenken an die eigene Urgroßmutter hat Petra Dombrowski (51) gedreht. Minna L. aus Wolbrechtshausen arbeitete Anfang des 19. Jahrhunderts in Göttingen als polizeilich registrierte Prostituierte. Sonntagabend hatte der Film im vollbesetzten Kino Lumiere Premiere.
Sie rief beim evangelischen Kirchenbuchamt in Göttingen an und ließ sich die Meldekarte ihrer Großmutter schicken. Sie war dort 1902 geboren worden. Zu Dombrowski Überraschung wird die Urgroßmutter in dem Papier als „Kontrolldirne“ bezeichnet. So hießen im Kaiserreich Prostituierte, die bei der Sittenpolizei registriert waren. Sie verpflichteten sich unter Androhung einer Gefängnisstrafe, ihrem Beruf diskret nachzugehen. Der Besuch bestimmter öffentlicher Orte oder von Veranstaltung war ihnen verboten. Zudem mussten sie sich wöchentlich auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen. Seit 1901 hatte Minna zu den „Kontrollierten“ gehört.
Göttingen. Es war ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Von der Großmutter in Stuttgart war nur zu erfahren, dass die Urgroßmutter „lebenslustig“ gewesen sei. Der Vater wollte überhaupt nichts sagen. „Da stimmt etwas nicht“, ahnte Dombrowski, die in Eching am Ammersee als Grafikdesignerin und Filmemacherin arbeitet. Die Sache ließ ihr keine Ruhe. 2009 begann sie zu recherchieren.
„Mich hat die Entdeckung nicht entsetzt, sondern tief berührt“, sagt Dombrowski. Sie forschte weiter. Die Urgroßmutter war 1875 als drittes von sieben Kindern geboren worden. Der Vater, ein Drechsler und Landwirt, hatte Spielschulden. Er verkaufte 1892 alles, um sein Glück in Amerika zu machen und dann die Familie nachzuholen.Er verschwand für immer. Minna fand 1895 in Göttingen Arbeit als Dienstmädchen. Sie hatte erste Männerbekanntschaften, infizierte sich mit der damals nicht heilbaren Geschlechtskrankheit Syphilis und wurde Opfer einer Vergewaltigung. Ihr Baby starb an Diphtherie. Das „gefallene Mädchen“ fand nicht wieder Tritt. Sie begann ihr mageres Gehalt als Näherin mit erwerbsmäßiger Prostitution aufzubessern, wohl auch um ihre Geschwister finanziell zu unterstützen, vermutet Dombrowski. In den kommenden Jahren zog Minna 31-mal in Göttingen um. Dombrowski fragt auch nach den Freiern. Insbesondere Studenten, Soldaten und Handwerker gehörten zu Minnas Kundschaft.
Die Ergebnisse der Nachforschungen hat die Designerin in ihrem sehenswerten Film in Bildcollagen szenisch umgesetzt. Sie lässt zwei Wolbrechtshäuserinnen Minnas Leben in Göttinger Platt – mit deutschen Untertiteln – kommentieren.
Der 60-minütige Film endet 1906, als die Urgroßmutter Göttingen verließ. „Sie ging ins Ruhrgebiet, heiratete, kam aber vom Milieu nicht los“, erzählt Dombrowski. Das führte dazu, dass die Behörden Minna die Tochter fortnahmen. Die Großmutter der Filmemacherin wuchs im Heim auf.
Das Lumiere, Geismarlandstraße 19, zeigt den Film „Roadmap einer Göttinger Straßendirne“ am Dienstag, 14. Juli, um 18 Uhr noch einmal.
Michael Caspar
Tanz der Pralinen
Wir sind die Neuen! Die Süßen aus Göttingen!
Was hat es mit den Süßen aus Göttingen auf sich? Sie enthalten den „wahren Kern“ einer Geschichte, die sich in Göttingen zugetragen hat… Im Jahre 1891 kam meine Urgroßmutter Minna L. in die Stadt. Damals gab es für ein Mädchen vom Lande nicht viele Möglichkeiten, ihr „Brot selbst zu verdienen“. Das Leben hatte viele Ecken und Kanten und oft landeten die Mädchen auf der „schiefen Bahn“. So auch Minna L. Doch trotz aller Widrigkeiten der sogenannten guten alten Zeit bin ich mir sicher, dass es im Leben von Minna L. auch „süße“ Momente gegeben hat. An diese will ich hier mit einem Augenzwinkern und einem Sortiment feinster Trüffel-Pralinen erinnern. Diese „Süßen“ wären bestimmt nach Minnas Geschmack gewesen.